Biblische Besinnung zum Lebensstil

Autor: Professor Hans Kirsch, Landau

Viele Menschen sterben nicht am Ende ihres Lebens, sondern bereits am Anfang oder vorzeitig mittendrin. Unsere Lebens- und Wirtschaftsweise wirkt sich weltweit zerstörerisch und todbringend aus - zu Land, zu Wasser und in der Luft, für Menschen, Tiere und Pflanzen. Mit dem einsatzbereiten Zerstörungspotenzial könnte die gesamte Biosphäre unseres Planeten vernichtet werden. So dumm sind wir trotz aller technischen und wirtschaftlichen Intelligenz geworden, so kurzsichtig und egoistisch beschränkt. Die propagierte Wertfreiheit der Wirtschafts- und Naturwissenschaften erweist sich als globaler Irrweg.

Immer mehr Menschen werden einsichtig und erkennen, dass die Welt mehr ist als das, was man messen und kaufen kann. Sie stehen auf und suchen kreativ nach neuen Formen des Konsumierens und Wirtschaftens, die gutes Leben für alle ermöglichen. Dabei entstehen Netzwerke, die ein umfassendes Gemeinschaftsgefühl wachsen lassen: das Bewusstsein, eingebunden zu sein, horizontal in das weltweite Netz der Völker und Kulturen und vertikal in die lange Kette von Adam und Eva bis zu fernen Generationen, als "aus Sternen Geborene" vom Urknall bis zur endgültigen Vereinigung der gesamten Schöpfung mit ihrem unaussprechlichen Anfang ohne Ende.

Verantwortungsvoll mit dem Lebenshaus Erde umgehen

Der biblische Schöpfungsmythos (Gen 1,1-2,4) bedeutet uns: Gott hat die Welt, "Himmel und Erde", erschaffen und unter dem vor den Urgewalten schützenden Firmament ein voll ausgestattetes Lebenshaus errichtet. In alle Etagen setzte er lebende Wesen, Pflanzen, Vögel und Fische, alles Landgetier und schließlich die Menschen, als Mann und Frau. Alle sind "Samen tragend", damit sie sich vermehren und entfalten zu einem wohlgeordneten Kosmos der Vielfalt und Gegenseitigkeit. Ausgestattet mit seinem Segen beauftragte Gott die nach seinem Abbild geschaffenen Menschen als Verwalter, als Ökonomen in diesem Lebenshaus Erde. Es ist nicht ihr Eigentum, nur Wohn- und Lebensrecht erhalten sie, und nicht zum Herrschen sind sie bestellt, sondern zum Hüten. Wachsam, zuverlässig, redlich und klug sollen sie sein, vor allem aber besorgt um die Mitgeschöpfe. Jesus hat diese Überzeugung der Heiligen Schrift bestätigt: "Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr einsetzen wird, damit er seinem Gesinde zur rechten Zeit die Nahrung zuteilt? Selig der Knecht, den der Herr damit beschäftigt findet." (Lk 12,42).

Neben den treu sorgenden Hausverwaltern gab und gibt es aber auch solche, die sich nur um ihr eigenes Wohl kümmern und auf Kosten anderer unangemessene, bisweilen gigantische Reichtümer anhäufen - mit entsprechend gigantischen Schäden im Lebenshaus und bei seinen Bewohnern. Für die Israeliten hatte sich Ägypten vom Lebenshaus zum Sklavenhaus entwickelt, aber mit Gottes Hilfe gelang es ihnen, aus Sklavenverhältnissen, aus Rechtlosigkeit und Bedrängnis jeglicher Art auszubrechen und nach langem und beschwerlichem Weg durch die Wüste im "gelobten Land" ein Lebenshaus zu errichten. Nie mehr sollte einer von ihnen in "ägyptischen Verhältnissen" leben. So entwickelten sie eine hoch differenzierte Sozialgesetzgebung und Ethik, in der besonders diejenigen Beachtung und Achtung fanden, die leicht unter die Räder kommen.

Aus den Strukturen der Ungerechtigkeit aussteigen

Richtig übersetzt erweisen sich diese Schriften aus unserem "Altes Testament" als ein Testament mit enormem Potenzial zur Vermenschlichung der Gesellschaft und nachhaltigen Sanierung des Lebenshauses Erde. In dieses Alte Testament haben uns die Propheten den Auftrag geschrieben, immer wieder energisch gegen die Entstehung von Strukturen zu kämpfen, die dazu führen, dass eine mächtige, reiche Minderheit einer armen, ohnmächtigen Mehrheit gegenübersteht.

Es ist der Auftrag, nicht schläfrig oder ängstlich still zu bleiben, wenn heute milliardenschwere transnationale Konzerne im eigenen und in fremden Ländern alles niederwalzen und das Lebenshaus der Menschheit nachhaltig schädigen, wenn sie zum Beispiel beim Abbau ihnen nicht gehörender Schätze Böden und Flüsse verseuchen oder in Bruchfabriken junge Leute zu Arbeitssklaven degradieren und sie in jeder Hinsicht ausbeuten. Der Auftrag von Ökonomie in ihrer ursprünglichen Bedeutung, die Durchführung einer Hausordnung zu organisieren, die das Haus in Schuss hält und gutes Leben für alle ermöglicht, wird hier ins Gegenteil pervertiert.

Aus den Elendsorten der Welt schreit der vorzeitige Tod unserer Brüder und Schwestern zum Himmel wie der Mord Kains an seinem Bruder Abel (Gen 4,9-10). Es gehört zu unserer prophetischen Aufgabe, die dahinter steckenden Mechanismen und "Strukturen der Sünde" aufzudecken - offenbar zu machen. Dabei ist es erste Pflicht, darauf zu achten, wie wir selbst in diese Mechanismen und Strukturen der Ungerechtigkeit verwickelt sind, gar davon profitieren, und konsequenterweise daraus auszusteigen - vielleicht nur in kleinen Schritten, aber Schritt für Schritt!

In Jesu Reden und Tun finden wir hervorragende Orientierung

Als gläubiger Jude kannte Jesus bestens die in der Heiligen Schrift enthaltene Hausordnung, erklärte und wandte sie so kraftvoll an, dass er Gelähmte beweglich, Taube hörend und Blinde sehend machte, von bösen Geistern Besetzte befreite, beschädigtes Leben jeder Art heilte und Tote zu neuem Leben erweckte. Er ging aus seiner engen Umgebung in Nazareth heraus und hinein in die Welt. Dabei speiste er mit Ratsherren und ließ sich von reichen Geschäftsleuten einladen, diskutierte mit Theologen und Religionsführern. In erster Linie und ganz besonders zog es ihn aber zu den Menschen am Rand und jenseits des Randes der Gesellschaft: zu Armen, Kranken, Aussätzigen, Blinden, Taubstummen, Sündern, Verachteten, "an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, (...) die jeglichen Elends" (Kardinal Bergoglio).

Diesen Jesus gilt es aus vielen Überkleidungen, die den Zugang zu ihm versperren, herauszuschälen; er darf nicht nach seinem Tod am Kreuz, zum zweiten Mal, im christlichen Dogma sterben (Fridolin Stier), sondern mit uns kraftvoll seine Stimme erheben: "Ich bin gekommen, um auf der Erde ein Feuer zu entfachen. Wie froh wäre ich, es stünde schon in hellen Flammen!" (Lk 12,49). Denn angesichts des schreienden Unrechts gilt auch heute, dass Jahwe vom Zion her brüllt (Amos), damit wir Unruhe stiften mit der Botschaft Jesu vom Reich Gottes.

Der Aufruf zu seiner Nachfolge "Auf, kommt mit mir, stellt euch hinter mich!" (Mk 1,17) gilt allen und wird an vielen Orten gehört, und als wahrer, tauglicher Weg zu Gutem Leben für alle erkannt. "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6). Das macht dann Wandlungen möglich, wie sie bei den Mahlgemeinschaften Jesu erfolgten, zum Beispiel beim reichen Oberzöllner Zachäus, der die Hälfte seines Vermögens den Armen gibt und das zuviel Genommene mehrfach ersetzt (Lk 19,1-10). Wenn wir als Christen eucharistisches Mahl feiern, müssen wir weniger fragen, was mit dem Brot und Wein, sondern was mit uns geschieht, ob wir uns wandeln, und die Welt.

Umkehr ermöglicht gutes Leben für alle

Was ändern wir an unserem Lebensstil, unseren asozialen Kauf- und Konsumgewohnheiten, damit gutes Leben für alle möglich wird, auch für die am Rand Stehenden und die nächsten Generationen? (Asozial ist alles, was auf Kosten anderer geht, auch wenn es legal ist.) Wie werden wir zu transformierten und transformierenden Gemeinden? Wie entschlossen setzen wir uns für menschenfreundliche Wirtschafts- und Produktionsformen ein, für die Einhaltung der Hausordnung Gottes, einer menschenfreundlichen Ökonomie?

Solches Umdenken erfordert einen grundlegenden Einstellungswechsel im privaten Bereich wie auch in der Gesellschaft, in Politik und Wirtschaft. Es geht um Gerechtigkeit, die zentrale Forderung unserer Heiligen Schriften, eine genuine Aufgabe der Kirche, ohne die jeder Gottesdienst hinfällig wird. Auferstehung ist nicht ein einmaliges, abgeschlossenes Ereignis; sie geschieht ganz praktisch auch heute überall dort, wo das Leben über den Tod siegt, wo wir die Opfer wahrnehmen, uns als mitbeteiligte Täter erkennen und durch Umkehr uns und den Opfern besseres Leben ermöglichen. Dazu gibt es tausend Gelegenheiten. Denn Gottes Reich ist bereits in Form von ungeahnten Potenzialitäten da. Die Welt und das Leben in ihr ist "Kairos", Zeit und Ort unvorstellbarer, aber möglicher positiver Entwicklungen hin zu gutem Leben für alle - aber nur, wenn wir uns nicht an den alltäglichen vorzeitigen Tod gewöhnen.

Lyrischer Denkanstoß von Erich Fried (1921 bis 1988)
Ich soll mich nicht gewöhnen